By Thomas Goes, University of Jena
Der Spätherbst 2009 barg für die deutschen Bildungspolitiker so manche Überraschung. Deutschlandweit besetzten Studierende Hörsäle und organisierten Demonstrationen. Wofür? Noch ist nicht klar, welche hochschulpolitische Alternativen sich die Studierenden wünschen. Wogegen sich der Unmut richtet ist allerdings deutlicher: Gegen die Folgen der neoliberalen Hochschulreformen, die das Gesicht der deutschen Universitäten innerhalb der letzten knapp 15 Jahren rasant verändert haben.
>>Neobliberalisierung<< bezeichnet nicht nur eine auf dem Dogma des freien Marktes basierende Sozial- und Wirtschaftspolitik, sondern auch eine spezifische Art der Regierung von Menschen, bei der mehr Wettbewerb, mehr Führung durch Märkte kombiniert wird mit weniger Planungssicherheit für das eigene Leben. Aus dieser Perspektive wurde das deutsche Hochschul- und Universitätssystem in den letzten Jahren massiv neoliberal umstrukturiert – wenn auch unter immer wieder sich neu entwickelnden Protesten. Was es heißt, ein flexibles Wirtschaftssubjekt zu sein, wissen viele Studierende heute zu ihrem Leidwesen nur zu gut zu berichten. Und so richteten sich die im letzten Jahr protestierenden Studierenden in ihren Vollversammlungen und während ihrer Demonstranten auch nicht gegen konkrete politische Anliegen von Landesregierungen[1], sondern gegen die hohen Arbeitsbelastungen, gegen die Ent-Wissenschaftlichung und Verschulung des Studiums sowie harte Selektionen. Vordergründig wirkten die Proteste merkwürdig entpolitisiert, gleichwohl birgt der in den Protesten oft genutzte Slogan >>Ich will mein Leben zurück<< erhebliche politische Sprengkraft.
Bereits im Sommer 2009 hatte ein Bündnis aus Studierenden und SchülerInnen zu einem Bildungsstreik aufgerufen. In ganz Deutschland waren ihnen etwa 250.000 Menschen gefolgt. Zwar waren es mehrheitlich SchülerInnen, die diesen Protest stark machten, allerdings nahmen auch viele Studierende – wenn auch in ungleich geringerem Maße – daran teil.
Studierendenproteste sind in der Bundesrepublik keineswegs selten. In den vergangenen Jahren wurde an den deutschen Hochschulen viel demonstriert und besetzt. In der Regel handelte es sich allerdings um Bewegungen innerhalb eines Bundeslandes, da die Hochschulpolitik in weiten Teilen durch die Regierungen der Einzelländer gestaltet wird. Zuletzt hatte 1997/98 eine bundesweite Streikwelle eine größere Minderheit der Studierenden erfasst. Die damalige Streikbewegung, die sich – nomen est omen – selbst als >>Lucky Streik<< betitelte, stritt um eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Universitäten generell. Die Mehrheit der daran Beteiligten kämpfte gegen die Unterfinanzierung der so genannten >>Massenuniversität<<, einer Minderheit ging es um andere Formen der Ausbildung und des Lernens, um Möglichkeiten kritischen Denkens, um Freiheiten und Freiräume während des Studiums allemal. Die heutigen Proteste unterscheiden sich von den vorangegangenen grundsätzlich davon radikal. Ihre Ursachen sind unmittelbarer, ihr Umfang gleichzeitig geringer – und doch ist das Protestpotenzial, ist die Unzufriedenheit weitaus größer.
Bereits wenige Jahre nach dem >>Lucky Streik<< setzten neue hochschulpolitisch Konflikte ein. Einzelne Bundesländer versuchten Studiengebühren einzuführen – zuerst nur für Studierende mit hohen Semesterzahlen (so genannte Langzeitstudierende), schließlich für alle Studierenden. Das war in gewisser Hinsicht ein Bruch mit den – technokratischen – Versuchen, die seit etwa Mitte der 1960er Jahre unternommen wurden, das Hochschulstudium mehr Menschen zu ermöglichen. Studiengebühren waren vor diesem Hintergrund alles andere als mehrheitsfähig innerhalb der Bevölkerung. Einverstanden waren mit ihnen allenfalls Hochschulrektoren, für die Gebühren gelegene Mittel waren, um die Finanzprobleme der eigenen Universitäten zu mildern. Konservativ regierte Länder machten den Anfang. Baden-Würtemberg und Bayern beschlossen die allgemeine Gebührenpflicht ab 2007. Unmut machte sich breit unter den Studierenden, schließlich entwickelten sich Protestwellen, die allerdings die Grenzen der einzelnen Bundesländer nicht überwanden: 2001/2002, schließlich 2005 und 2006. Die heftigsten Studierendenproteste erlebte das Bundesland Hessen. Studierende entwickelten einen äußerst kreativen, lebendigen und durch ein breites Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützten Massenprotest gegen die Gebührenpläne konservativ-liberalen Landesregierung. Diese ließ sich zwar dadurch nicht beirren und beschloss die Einführung von Gebühren; das Gesetzt hatte allerdings nur kurze Zeit Bestand und wurde, nach gewonnener Landtagswahl im Sommer 2008 mit den Stimmen der SPD, der Partei DIE LINKE und der Grünen für Hessen wieder abgeschafft.
Eingebettet ist das Konzept der Studiengebühren in eine generelle Umdeutung der Funktion der Universitäten, die annäherungsweise mit dem Schlagwort der Ökonomisierung gefasst werden kann: Mehr Wettbewerb innerhalb der Hochschulen, stärkerer Wettbewerb zwischen ihnen sowie ein verschärfter Wettbewerb zwischen den Studierenden. Bezüglich der Studierendenausbildung drückt sich dies – quer durch die Parteien (von der SPD bis zur FDP mit Ausnahme der Partei DIE LINKE) – in einem Leitbild aus, das die akademische Ausbildung als Investition ins Humankapital und somit als wirtschaftlichen Standortfaktor sieht. Wenngleich das aus einer polit- und bildungsökonomischen Perspektive nicht überraschen mag, war dies nach 1968 doch ein erheblicher Bruch mit dem akademischen Selbstverständnis vieler älterer Hochschullehrer einerseits, den Ansprüchen von Studierenden an ein gutes Leben und ein erfüllende Ausbildung andererseits.
Parallel zur partiellen Einführung von Studiengebühren wurde das Hochschulsystem allgemein und die Hochschulausbildung konkret im Zuge der so genannten Bologna-Reformen – durch die bis 2010 ein einheitlicher europäischer Hochschulraum geschaffen werden soll – generell umstrukturiert. Zwischen 1999 und 2007 wurden neue Studienabschlüsse, Studiengänge, Routinen, Kontrollen und Leitbilder eingeführt. Das alte System aus Magister- und Diplomstudiengängen mit Prüfungsordnungen, die oft ein freieres und stärker selbst organisiertes Studium zuließen, wurde ersetzt durch ein stark verschultes und leistungsintensives Bachelor- und Mastersystem. Dass diese Reformen in erster Linie die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsraumes der Europäischen Union sowie die arbeitsmarktkonforme Ausbildung der Studierenden bezweckten war kein Geheimnis, sondern gehörte zu den offiziellen – wenn auch anders formulierten – Zielen der Reformpolitiker.
Befürworter der Reformen argumentierten, die neuen Studiengänge ermöglichten den Studierenden mehr Flexibilität in der Studienwahl und – hier schien die staatliche Technokratie mit den Autonomiewünschen der Studierenden zu harmonieren – gewährleist zudem eine Steigerung der Outputeffizienz der Hochschulen: Mehr Studierende in weniger Zeit. Das wurde so nicht gesagt, war aber doch so gemeint. Wer konnte etwas dagegen haben? KritikerInnen sahen dagegen durch die befürchtete Zeit- und Arbeitsbelastungen für Studierende eine forcierte Entdemokratisierung der universitären Selbstverwaltungsgremien einerseits, eine Stärkung der Outputfunktion der Hochschulen für private Unternehmen, Administrationen und Arbeitsmärkte andererseits am Werke. Analytisch könnte das Ergebnis der letzten 10 Jahre Hochschulreform als eine die Autonomie der Subjekte instrumentalisierende markbasierte Regierungsweise verstanden werden. Anstatt der versprochenen Autonomie erwartete die Studierenden mehr Eigenverantwortung angesichts verschärfter Konkurrenz und intensivierten Leistungsdrucks. Praktisch führte die kombinierte Vermarktlichung und Verschulung der Hochschulausbildung an den Rand der Funktionsfähigkeit. Studierende beklagen sich heute nicht nur über den immensen Leistungs- und Wettbewerbsdruck, die gestiegene psychische Belastung und das strenge Zeitregime – zum Teil entstehen auch Sinnkrisen. Inhalte und wissenschaftliches Denken bleiben für viele der unzufriedenen Studierenden auf der Strecke. Die Aktionsform des „Schlafstreik“ – durchgeführt von studienbedingt übermüdeten Studierenden – ist Ausdruck dieser „Krise der Universitäten“ in Deutschland.
Wie sich die Bewegung weiter entwickeln wird, ist noch unklar. Die Probleme der Studierenden sind immens, das >>Hamsterrad<< zu unterbrechen und gemeinsame Perspektiven zu entwickeln ist jedoch ein Aufgabe, die bislang nur ansatzweise gelungen ist. Eine produktive Rolle könnte dabei in den nächsten Monaten und Jahren der neu gegründete Sozialistisch Demokratische Studierendenverband (SDS) spielen, sofern er Kontinuität stiften und so einen länger andauernden Diskussionsraum für die sich politisierenden AktivistInnen bieten kann.
[1] Hochschulpolitik ist >>Ländersache<< – sie obliegt der politischen Entscheidungskompetenz der einzelnen Bundesländer. Zwar gibt es ein allgemeines bundesweit gültiges Hochschulrahmengesetz, konkretere Ausgestaltungen werden allerdings durch Landesrecht geregelt. Dem entsprechend gibt es beispielsweise Bundesländer, die Studiengebühren eingeführt haben und solche, die keine Gebühren erheben.